Das goldene Wasser unter Paris
Felix ist mit seinen Eltern in Paris. Sie haben die Spitze des Eiffelturms erklommen und schauen auf die Stadt hinab.
Von Alexander Jereb, Entwicklungsleiter Wassertechnik
Papa, wie weit oben sind wir?
Auf 276 m Höhe.
Schau mal, ein Meer aus Häusern! Man sieht gar kein Ende. Ist das da unten der Triumphbogen?
Ja. Und auf der anderen Seite kannst du die Kathedrale Notre-Dame de Paris sehen.
Ah ja, die Kirche, die gebrannt hat! Das ist so schade.
Etwas links davon siehst du den Palast des Louvre und etwas dahinter das Centre Pompidou.
Das Gebäude mit den vielen bunten Rohren an der Außenseite?
Genau. Hinter den Farben steht übrigens ein System: Die blauen Rohre sind für die Belüftung, die gelben für die Elektrik und die grünen für die Wasserversorgung. Bei anderen Häusern gibt es diese Rohre auch – nur dort sind sie im Inneren versteckt.
Papa, wie ist das eigentlich in Paris mit dem Wasser? Die Stadt ist ja riesig, da muss es ganz schön lange Rohre geben!
Da hast du recht. Die Stadt Paris selbst hat etwa 2,2 Millionen Einwohner. Im gesamten Siedlungsgebiet ringsherum wohnen aber mehr als 12 Millionen Menschen. Damit gehört die Metropolregion Paris zu den Megastädten der Erde. Und diese Städte wachsen immer weiter und müssen versorgt werden. Sie brauchen frisches Wasser. Und zugleich muss das Abwasser entsorgt werden.
Das sind wirklich viele Leute auf einem Fleck …
Die UNESCO schätzt, dass 2030 jeder dritte Mensch in einer Großstadt leben wird. Da müssen sich die Städte ordentlich anstrengen, um alle zu versorgen. Manchmal klappt das nicht so gut. Die Stadt Kapstadt in Südafrika wächst zum Beispiel auch sehr schnell. 2018 musste sie sich nach einer jahrelangen Dürre überlegen, das öffentliche Wassernetz abzustellen. Dann hätte jeder Bewohner nur noch 25 Liter pro Tag bekommen.
25 Liter ist wenig, oder?
25 Liter zum Trinken, Kochen, Waschen und für die Toilette sind schnell weg. Man hat den Leuten gesagt: Spült das Klo seltener, nehmt Desinfektionssprays, statt euch die Hände zu waschen, duscht nur kurz, verwendet Einweggeschirr.
Das Klo nicht spülen – das ist doch eklig!
Ganz zu schweigen vom Gesundheitsrisiko in einer Millionenstadt.
Haben sie dann wirklich das Wasser abgestellt?
Nein. Die Warnungen haben bewirkt, dass Wasser gespart wurde – in den Haushalten, der Industrie und der Landwirtschaft. So konnte der große „Wasser-Stop“ vorerst auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Das verschafft der Stadt eine Verschnaufpause und Zeit, um über geeignete Maßnahmen nachzudenken. In Zukunft soll die Digitalisierung den Städten beim Wassersparen helfen. Man nennt diesen Ansatz „Smart Water“ oder „Water 4.0“. Europäische Forscher testen gerade ein Programm namens Smart Water for Europe (SW4EU): Das Trinkwasser wird dabei durch ein Netz aus Sensoren und smarten Wasseruhren überwacht und gesteuert. Außerdem steht das Wasserwerk über Apps und Social Media in Kontakt mit den Verbrauchern. So erkennt es in Echtzeit, wenn irgendwo Wasser verloren geht, weil etwa ein Rohr undicht ist. Undichte Rohrleitungen sind ein großes Problem: Stell dir vor, selbst hier bei uns in der EU gibt es Regionen, wo die Hälfte des Trinkwassers wegen undichter Rohre im Boden versickert!
Das ist ja richtige Verschwendung.
Ja. Wasser ist wertvoll. In manchen Megastädten ist das Trinkwasser bereits so knapp, dass gereinigtes Abwasser als Brauch- oder sogar als Trinkwasser wiederverwendet wird. Man nennt das „Water Reuse“. In Singapur gibt es das Projekt NEWater.
Wähh, die trinken ihr eigenes Klowasser?
Naja. Das Wasser, das die Kläranlagen verlässt, wird aufwändig aufbereitet: Mit Mikrofiltrations- und Umkehrosmoseanlagen werden die Verunreinigungen von Bakterien bis hin zu Viren und anderen gefährlichen Stoffen entfernt. Zur Sicherheit ist dieser Filtration noch eine Desinfektionsstufe nachgeschaltet. Das so gewonnene Wasser wird meistens nur als Brauchwasser in der Industrie oder für Kühlanlagen verwendet. Nur in der Trockenzeit wird es auch in die Trinkwasserreservoire eingespeist – und kommt erst nach einem mehrstufigen Aufbereitungsprozess ins Trinkwassernetz.
Trotzdem. Wenn ich daran denke, wo es ursprünglich herkommt …
Weißt du, Abwasser wird zunehmend als wertvolle Ressource gesehen. Man kann es aufbereiten und dabei wichtige Inhaltsstoffe, wie Phosphor, herausholen und nutzbar machen. In Paris gab es einen Mann, der hat den Wert des Abwassers schon vor 160 Jahren erkannt: Victor Hugo, ein berühmter Schriftsteller. Er hat geschrieben: „Si notre or est fumier, en revanche, notre fumier est or. Que fait-on de cet or fumier? On le balaye à l’abîme.“ – „Wenn unser Gold Mist ist, ist unser Mist Gold. Was machen wir mit diesem Gold? Wir werfen es weg.“ Damals wurde das Abwasser nur gesammelt und unbehandelt in die Seine geleitet. Heute sind wir zum Glück schlauer. Die modernen Kläranlagen sind eine wesentliche Voraussetzung für eine spätere Nutzung.
Wieso hat dieser Hugo über Abwasser geschrieben?
Er hatte einen guten Freund, Pierre Emmanuel Bruneseau, der erforschte das Pariser Kanalsystem. Er modernisierte und desinfizierte es und fertigte erstmals Pläne davon an. Dazu brauchte er eine Menge Mut: Denn das war eine finstere, schmutzige Unterstadt. Victor Hugo hat diese Unterstadt und die, die sich notgedrungen darin aufhielten, sehr gut in seinem Roman „Les Misérables“, „Die Elenden“, beschrieben.
Wie groß war denn diese Stadt unter der Stadt?
Als Hugo das Buch um 1860 schrieb, war das Kanalnetz 226 Kilometer lang. Aber stell dir vor: Heute ist es mehr als zehnmal so groß. Die Égouts de Paris umfassen 2.600 Kilometer!
2.600 Kilometer voller Gold, Papa! Gut, dass die Menschen es heute nutzen wollen! Aber, naja, leben möchte ich dort unten trotzdem nicht.